Familie Turteltaub, Lustenauerstraße 3

Zur Ausstellung im Stadtmuseum/Stadtarchiv Dornbirn im November 1996
Martin Achrainer und Niko Hofinger

Unter den mehr als 3000 Juden, die mit Zügen aus Griechenland und Italien am 30. Juni 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ankamen , befand sich auch die Familie Turteltaub aus Dornbirn. Die beiden Kinder, Hans und Walter, wurden am gleichen Tag mit mehr als 2000 der angekommenen Männer und Frauen in den Gaskammern getötet; auch ihre Eltern, Ing. Edmund und Gertrude Turteltaub, überlebten Auschwitz nicht.
Die Ermordung der Familie Turteltaub stand erst nach Recherchen des Instituts für Zeitgeschichte und der Kontaktaufnahme mit überlebenden Mitgliedern der Großfamilie in Israel fest.  Der Dornbirner Stadtrat beschloß daher im Frühjahr 1996 einstimmig, die Namen der vierköpfigen Familie auf dem Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus nachzutragen.
Die Ausstellung "Familie Turteltaub, Lustenauerstraße 3" versucht, den Lebensweg der Großfamilie Turteltaub von den Großeltern bis zum jüngsten Enkel, dem 1935 in Dornbirn geborenen Walter, nachzuzeichnen. Denn die einzige jüdische Familie Dornbirns ist aus dem Gedächtnis der Stadt verschwunden. "Kleine" Leute hinterlassen im Alltag wenige Spuren. Die Lebensumstände der Familie Turteltaub können aber anhand unspektakulärer amtlicher Aufzeichnungen, wie Meldezettel oder Klassenbüchern, rekonstruiert werden. In der Zusammenschau solcher Einzelereignisse ergibt sich schließlich doch die Biographie einer Familie.

Edmund Turteltaub wurde am 4. Oktober 1899 in Wien geboren. Seine Eltern, Wolf Meier Turteltaub und Amalie, geb. Wolfart, stammten aus Galizien und waren erst wenige Jahre zuvor nach Wien gekommen.
Galizien, das größte und bevölkerungsreichste Kronland der Monarchie, galt zugleich als deren ärmster und rückständigster Teil. In Galizien lebten die meisten Juden der Monarchie (1900: 811.000, 11 % der Bevölkerung). Die ohnehin große Armut verschärfte sich im Zuge der (späten) Industrialisierung Galiziens noch. In Stanislau, der Heimatstadt von Amalie Turteltaub, mußte beispielsweise 1890 fast die Hälfte aller jüdischen Familien unterstützt werden, um das Pessachfest feiern zu können.  Wer konnte, versuchte auszuwandern. Die Möglichkeit, sich in einem anderen Teil der Monarchie niederzulassen, stand den Juden erst durch die Staatsgrundgesetze von 1867 offen. Erstmals erlangten sie damit die Freiheit, ihren Wohnort und Beruf selbst zu wählen.  Gleichzeitig stieg die allgemeine Mobilität nach dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, und im weiteren Zusammenhang mit der Fluchtbewegung der russischen Juden nach zahlreichen Pogromen setzte seit den 1880er Jahren eine Massenwanderung von osteuropäischen Juden nach Westen ein. Allein in den 1890er Jahren verließen 114.000 Juden Galizien.  Der Großteil von ihnen emigrierte nach Amerika, für ca. 20.000 war aber Wien der erste Anziehungspunkt.

Wie die meisten ostjüdischen Einwanderer in Wien wohnten auch Wolf Meier und Amalie Turteltaub im zweiten bzw. im angrenzenden zwanzigsten Bezirk. Wolf Meier scheint in den Wiener Adreßbüchern unter seinem Rufnamen Max zunächst als "Agent" in der Staudingergasse 14, dann als "Gemischtwarenverschleißer" in der Othmargasse 13 und in der Traunfelsgasse 3 auf.  Alle drei Adressen liegen im Umkreis weniger Gehminuten und deuten auf die kleinräumige Struktur dieser dichtbesiedelten Bezirke hin.

Wolf Meier und Amalie Turteltaub hatten am 8. April 1894 in Stanislau, Amalies Geburtsstadt, geheiratet. In Wien kamen nun ihre ersten beiden Kinder auf die Welt: Edmund (1899) und Eva (1900). Während die Familie sonst überall unter dem Namen "Turteltaub" aufschien, wurde in die amtlichen Matrikeln der Israelitischen Kultusgemeinde der Name "Torkiltob" eingetragen. Noch bei Edmunds Hochzeit 1931 schrieb der Innsbrucker Rabbiner Link in die Matrikeln "Edmund Torkiltob, genannt Turteltaub". Es gibt keine Hinweise auf eine Namensänderung, wie sie zu dieser Zeit öfter praktiziert wurden; wahrscheinlich entstanden Widersprüche bei der Anerkennung religiöser Personaldokumente.

Als galizischer Jude lebte man im Wien der Jahrhundertwende einerseits in der großen Gruppe geschützt - unter tausenden Zuwanderern entstand eine Infrastruktur ähnlich der in Galizien. Das jüdische Leben funktionierte wie daheim: Es gab Bethäuser, koschere Geschäfte, Landsmannschaften und Unterstützungsvereine für Arme und Alte. Andererseits hieß der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der erste Politiker, der mit einem prononciert antisemitischen Programm an die Spitze einer Stadtvertretung gewählt worden war. Die Stadt war überbevölkert und die Aufstiegschancen waren speziell für jüdische Zuwanderer mit kaufmännischem Hintergrund sehr eng begrenzt.

Einige wenige der rund 150.000 Juden Wiens wagten nun wie Wolf Meier und Amalie Turteltaub den Sprung ins kalte Wasser: Sie gingen in die westlichen Kronländer, wo die boomenden Provinzstädte hervorragende wirtschaftliche Chancen boten. Gleichzeitig verzichteten sie damit aber auch auf das bisherige religiöse und soziale Umfeld und stellten sich dem starken Assimilationsdruck der katholischen Alpenländer mit kleinem und kleinstem jüdischen Bevölkerungsanteil und einer provisorisch erscheinenden, minimalen religiösen Infrastruktur.

Etwa 1903 übersiedelte die junge Familie nach Salzburg. In Maxglan wurden 1905 die Zwillinge Ella und Anna Turteltaub geboren. Ein Foto aus dieser Zeit - Edmund und Eva in Salzburger Tracht - zeigt die Anpassungsbereitschaft der Familie an die neue Umgebung. Rund zehn Jahre nach der Auswanderung aus Galizien hatten die Turteltaubs ein gesellschaftliches Profil als jüdische Österreicher und ein entsprechendes Selbstverständnis erreicht; die galizischen Juden in Wien dagegen blieben als Gruppe durch Sprache, Kleidung und religiöse Praxis erkennbar, von den eingesessenen "Wiener Juden" unterscheidbar und ausgegrenzt.

Ende 1905 ging die Familie nach Innsbruck. Die Stadt hatte in den letzten 50 Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht, die Einwohnerzahl hatte sich von 15.000 auf 50.000 verdreifacht: Als wichtiger Verkehrsknotenpunkt erlebte sie eine wirtschaftliche Umwälzung, die tausende Zuwanderer anlockte. Unter ihnen waren zwar nur 2 % Juden, diese wurden jedoch als die angeblichen Träger der vielen Tirolern unerwünschten Modernisierung besonders angefeindet. Einen Monat nach der Übersiedlung der Familie Turteltaub erschien zum Beispiel ein Flugblatt des "Deutschen Wählervereins" mit einer "Judenliste", das vor Weihnachten 1905 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief.
Die Juden Innsbrucks bildeten keineswegs eine homogene Gruppe. Der größte Teil war in den letzten 20 Jahren eingewandert, unter ihnen vor allem Kaufleute. Manche von ihnen waren wirtschaftlich erfolgreich und konnten ihre Geschäfte ausbauen, andere verdienten sich ihren Lebensunterhalt recht und schlecht als Trödler und Kleinhandwerker.
Auch die Turteltaubs blieben beim Gemischtwarenhandel. Sowohl Amalie als auch Wolf Meier erwarben einen Gewerbeschein; 1911 kaufte Amalie das Haus Defreggerstraße 12, in dem auch ihr Textilgeschäft mit dem Namen "Warenkredithaus Fortuna" untergebracht war und wo sie gemeinsam mit der (1924 zugezogenen) Familie von Amalies Bruder Joel Schrager wohnten. 1909 kam der jüngste Sohn Fritz Turteltaub auf die Welt.

Die knapp 500 Innsbrucker Juden lebten weitgehend assimiliert, aber nicht areligiös. Unter Federführung des langjährigen und einzigen jüdischen Politikers Tirols (liberaler Gemeinderat in Innsbruck 1872-1896) und Vorstandes des "Israelitischen Schul- und Kultuscomités", Wilhelm Dannhauser, begannen 1910 konkrete Bemühungen, eine eigene Kultusgemeinde zu errichten, um die Juden Innsbrucks organisatorisch zu stärken. Bis dahin waren die Tiroler Juden der Kultusgemeinde in Hohenems zugehörig gewesen.
Die Familie Turteltaub war eine der wenigen Familien Innsbrucks, die sich weitgehend an die religiösen Vorschriften hielt. Nicht zufällig ist der einzige Kultgegenstand aus dem Besitz der Innsbrucker Kultusgemeinde, der den Nationalsozialismus überdauert hat, ein Toramantel mit der eingestickten Widmung "Eine Herzensgabe des Mitglieds R. Meir Sev [hebr. für "Wolf"] Turteltaub und seiner Frau, der lieben Malka, sie möge leben, Innsbruck [5]686 [=1926]".

Das Haus in der Defreggerstraße 12 entwickelte sich zum lebendigen Zentrum der Großfamilie. Das erste Foto aus dieser Wohnung zeigt die Familie um 1912 mit den typischen Attributen städtischen Bürgertums. Die drei Töchter heirateten in den 1920er Jahren. Nach gescheiterter Ehe kehrte die älteste Tochter Eva mit ihrem Sohn Aldo Alloggi zurück. Wolf Meier und Amalie nahmen nach dem frühen Tod ihrer Tochter Anna deren Kinder aus zwei Ehen, Erich Weinreb, Gita und Leopold Scharf, bei sich auf. Die dritte Tochter Ella lebte mit ihrem Mann Ernst Reichmann und dem Sohn Leopold in Telfs. Fritz, der jüngste Sohn, lebte zu Hause und half im Geschäft.

Edmund Turteltaub maturierte im Kriegsjahr 1917 an der k.k. Ober-Realschule in Innsbruck und studierte dann an den Technischen Hochschulen in Wien und München, die er 1922 als Diplomingenieur der Chemie abschloß.  Offensichtlich konnte er sich jedoch in seinem Beruf nicht etablieren, studierte zunächst ein zusätzliches Semester in Innsbruck , und arbeitete einige Jahre als Angestellter der Wach- und Schließgesellschaft in Zell am See.

1930 versuchte Edmund schließlich sein Glück als Kaufmann in Dornbirn. Er errichtete eine Zweigniederlassung des Familienbetriebes "Warenkredithaus Fortuna" in der Marktstraße 39  und übersiedelte im selben Jahr ins Hatlerdorf. Der Schritt nach Dornbirn war für den Chemieingenieur sicher nur eine Notlösung - die schlechte Wirtschaftslage hatte auch Vorarlberg erfaßt und die Kaufmannschaft erfreute sich keiner guten Auftragslage. Dipl.-Ing. Edmund Turteltaub war auch nicht als spezialisierter Fachmann, sondern als vierundfünfzigster (!) Manufakturwarenhändler in Dornbirn im Branchenverzeichnis eingetragen.

Anfang 1931 heiratete Edmund Turteltaub in Innsbruck Gertrude Popper aus Lundenburg in der CSR.  Vor der Hochzeit mietete er sich im Hatlerdorf, Birngasse 12, ein; nach der Geburt des ersten Sohnes Hans 1932 übersiedelte die Familie mit dem Geschäft in die Lustenauerstraße 3. Dort kam 1935 auch der zweite Sohn, Walter, auf die Welt. Die Geschäftsverlegung wurde den "geschätzten Kunden von Dornbirn und Umgebung" in einem Inserat im Dornbirner Gemeindeblatt bekanntgegeben: "Wir bleiben bemüht, Sie stets aufrichtig und entgegenkommend zu bedienen und Ihr Vertrauen auch weiterhin zu erhalten."  1935 wandelte Edmund Turteltaub den Betrieb in eine eigenständige, ihm selbst gehörende Firma um.  Das Geschäft bestand allerdings lediglich aus einem Zimmer der Wohnung, das als Verkaufs- und Lagerlokal diente. Die Umsätze waren wohl sehr gering, reichten aber für ein geregeltes Leben der Familie.
Obwohl Dornbirn als "braunes Nest" und Organisationszentrum der NSDAP Vorarlbergs galt und die Nationalsozialisten seit 1933 zahlreiche Sprengstoffanschläge mit sogenannten "Papierböllern" verübten, sind keine Vorfälle bekannt, die sich gegen die wenigen Juden der Stadt gerichtet hätten.

Mit dem "Anschluß" im März 1938 änderten sich für die Familie Turteltaub wie für alle Juden Österreichs schlagartig die Lebensumstände. Die erhaltenen Akten beinhalten nicht mehr das alltägliche Leben einer Dornbirner Familie, sondern die systematische Verfolgung und Vertreibung der Juden aus Vorarlberg.
Die Turteltaubs "waren gleich nach dem 'Anschluß' Zielscheibe für nationalsozialistische Rowdys, die rund um das Haus, das sie in Dornbirn bewohnten, nächtens Krach schlugen."  Der Sohn der Vermieterin, Bruno Walter, erinnerte sich, daß schon am 11. März 1938 Hatler Nazis vor das Haus zogen und "Henkt die Schwarzen, henkt die Juden" riefen.

Anders als einige der Hohenemser Juden, die noch 1938 in die Schweiz flohen, blieb die Familie in Dornbirn. Edmund Turteltaub wurde noch am 14. August 1938 als Ersatzmitglied in den Kultusausschuß der - auf 27 Vorarlberger "Seelen" geschrumpften - Israelitischen Kultusgemeinde Hohenems gewählt.  Der sechsjährige Hans wurde am 19. September 1938 in die 1. Klasse der Knabenvolksschule Hatlerdorf eingeschult.  Anfang September 1938 wurden der Familie Turteltaub von der BH Feldkirch Reisepässe ausgestellt ; ihnen muß klar gewesen sein, daß es im nationalsozialistischen Dornbirn keine Zukunft geben konnte.

Edmund Turteltaubs 70jähriger Vater wurde in der sogenannten "Reichskristallnacht", die in Innsbruck mit außerordentlicher Brutalität verlief, mißhandelt und gemeinsam mit Edmunds Bruder Fritz und dem Neffen Aldo Alloggi in sogenannte "Schutzhaft" genommen. Aus Dornbirn sind keine derartigen Ausschreitungen bekannt.

Am 30. November 1938 wurde die Vermieterin Rosa Walter, zu der die Familie ein ausgezeichnetes Verhältnis hatte, ins nahe gelegene Parteilokal (im Haus des Schneiders Gfrerer in der Lustenauerstraße) vorgeladen und gefragt, wie lange sie "die Juden noch zu beherbergen denke". Der Hatler Ortsgruppenleiter erklärte: "Wir wollen Dornbirn judenrein haben". Sie verwies auf den gültigen Mietvertrag mit zweimonatiger Kündigungsfrist, wurde jedoch gezwungen, die Kündigung mit 1. Dezember 1938 auszusprechen. Edmund Turteltaub verkaufte seinen ganzen Besitz, wurde aber innerhalb der Kündigungsfrist nicht damit fertig. Er sprach daher bei der Gestapo in Bregenz vor und bat um einen Aufschub. Dort wurde ihm mitgeteilt, daß die Gestapo die Kündigung nicht gefordert und von der ganzen Angelegenheit keine Ahnung hätte. Die Kündigung war tatsächlich auf eigene Initiative der NSDAP Hatlerdorf ausgesprochen worden.

Im Jänner 1939 mußten alle Juden Vorarlbergs die neu eingeführten "Kennkarten für Juden" beantragen. Gleich fünf Paßfotos waren abzugeben, die Fingerabdrücke wurden ihnen abgenommen, der Antrag war mit den allen Juden aufgezwungenen Beinamen Israel und Sara zu unterschreiben.

Das Hatler Schülerverzeichnis vermerkt bei Hans Turteltaub 79 versäumte Halbtage im ersten Semester - ab Mitte November war Juden der Schulbesuch verboten - und 33 im zweiten, bis er am 7. März 1939 von der Schule abgemeldet wurde.  Die ganze Familie mußte an diesem Tag nach Wien übersiedeln.

Die meisten Mitglieder von Edmunds Großfamilie lebten damals bereits in Wien; sie hatten Innsbruck im Dezember 1938 verlassen müssen: seine Eltern Wolf Meier und Amalie mit ihren Enkelkindern Erich, Gita und Poldi, sein Bruder Fritz und seine Schwester Eva Alloggi mit ihrem Sohn Aldo. Die Schwester Ella war bereits im Oktober 1938 mit ihrem Mann Ernst Reichmann, der die tschechische Staatsbürgerschaft besaß, und dem Sohn Leopold in die CSR ausgewiesen worden.

Der spätere legendäre Dornbirner Stadtpolizist Bruno Walter besuchte die Familie Turteltaub im Juni 1939 in Wien. In einem Brief an Rosa Walter teilte Edmund Turteltaub mit, er habe in Uruguay eine Anstellung bekommen, die Einschiffung in Genua war für den 2. September 1939 geplant.  Im Juli 1939 reiste die Familie von Wien nach Mailand, wo die meisten jüdischen Flüchtlinge Italiens lebten. Auf dem letzten bekannten Foto der Familie vom August 1939 aus einem Café in Mailand wirken die Turteltaubs zuversichtlich und befreit. Zwar legte Italien, das während der ersten neun Monate des Weltkrieges neutral blieb, einer Auswanderung jüdischer Flüchtlinge nichts in den Weg, doch gelang der Familie Turteltaub in den Wirren um den am 1. September 1939 begonnenen Zweiten Weltkrieg die geplante Ausreise nicht mehr.

Mit dem Kriegseintritt Italiens auf der Seite Deutschlands im Juni 1940 traten seit längerer Zeit vorbereitete antijüdische Maßnahmen in Kraft: "Ausländische Juden" - als ausländisch galten alle Juden, die seit 1919 nach Italien gekommen waren, als jüdisch alle, deren Eltern jüdisch gewesen waren - wurden interniert. Die Polizei internierte zunächst die Männer im wehrfähigen Alter in eigens errichteten Lagern oder in öffentlichen Gebäuden an entlegenen Orten. Frauen und Kinder konnten zunächst noch am Wohnort bleiben, wurden später aber großteils in sogenannter "freier Internierung" an entlegene Orte verbannt, die sie nicht verlassen durften. Die Lebensbedingungen in der "freien" sowie in der Lagerinternierung waren sehr unterschiedlich. Einem Teil der betroffenen Familien wurde schließlich erlaubt, zusammenzuleben.

Während die Familie Edmund Turteltaub in Italien festsaß, entschied sich das Schicksal der Großfamilie genau in diesen Jahren. Edmunds Schwester Eva Alloggi und ihr Sohn Aldo, die schon Anfang 1939 über Triest illegal nach Palästina geflüchtet waren, sowie Edmunds Neffe Erich Weinreb und dessen Bruder Poldi Scharf, die als 10- bzw. 8jährige Buben mit einem illegalen Transport Palästina erreichten, und Edmunds Bruder Fritz Turteltaub, der im Sommer 1939 nach England gelangte, konnten rechtzeitig fliehen und überlebten.
Wolf Meier und Amalie Turteltaub wurden mit ihrer 10jährigen Enkelin Gita Scharf im Jänner 1942 von Wien nach Riga deportiert und ermordet. Edmunds Schwester Ella und deren Ehemann Ernst Reichmann wurden im Mai 1942 von Prag über Theresienstadt nach Lublin deportiert und ermordet. Ihr 10jähriger Sohn Poldi kam im Oktober 1942 ins KZ Theresienstadt und von dort im Mai 1944 nach Auschwitz und wurde ermordet.

Aus den spärlichen Überresten der behördlichen Aufzeichnungen lassen sich die Lebensumstände der Dornbirner Familie Turteltaub in Italien rekonstruieren.
Im Oktober 1939 wohnte die Familie noch in Mailand, am Corso Buenos Ayres 45. Edmund Turteltaub legte dem italienischen Innenministerium ein Telegramm vor, das der Familie bestätigte, für ein Visum nach Bolivien vorgemerkt zu sein. Das Visum selbst erwartete er noch für den November. Allerdings war sein von der BH Dornbirn ausgestellter Reisepaß am 6. September 1939 ungültig geworden. Sein Ansuchen um Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bis 10. Dezember 1939 wurde vom Innenministerium abgelehnt, wie es der Linie der italienischen Politik entsprach: Praktisch alle ausländischen Juden in Italien hatten rechtsgültige Ausweisungsbescheide in der Hand, abgeschoben wurde aber - mit Ausnahme ganz weniger einzelner Personen - niemand.
Die Internierung der ausländischen Juden in Italien betraf anfangs nur die Männer. Edmund Turteltaub wurde im Juli 1940 in das sogenannte "Konzentrationslager" Isola Gran Sasso in der Provinz Teramo gebracht, eines der vierzehn in Mittelitalien gelegenen Lager. "Isola Gran Sasso" befand sich - im Gegensatz zum irreführenden Namen - so wie alle anderen Internierungslager in Teramo auf dem Festland in der Nähe der Stadt Aquila. Die Lager bestanden zumeist aus mehreren Häusern eines Ortes.
Im Dezember 1940 konnte Gertrud Turteltaub ihren Mann für vier Tage in Gran Sasso besuchen. Kurz darauf beantragte die Mailänder Präfektur, die ganze Familie gemeinsam im Lager Ferramonti di Tarsia im südlichsten Italien zu internieren. Edmund wurde am 24. Jänner 1941 nach Ferramonti gebracht, Gertrud, Hans und Walter, die bis dahin wohl in Mailand geblieben waren, am 20. Februar.
Ferramonti di Tarsia war das größte Internierungslager in Italien mit bis zu 2000 Insassen, eine "Barackenstadt" im Tal des Crati in Kalabrien, etwa vierzig Kilometer nördlich von Cosenza. Die Internierten entwickelten ein ausgeprägtes, organisiertes Lagerleben, zum Beispiel mit einer Schule, in der es 1940/41 vier deutschsprachige Klassen gab, mit Kleinhandel und -gewerbe sowie kulturellen Veranstaltungen. Die Familie Turteltaub lebte in Ferramonti in einer der "Familienbaracken", das heißt, sie hatten einen Wohnraum und eine eigene Küche zur Verfügung. Von der italienischen Regierung erhielten sie ein Taggeld von 24 Lire für ihre Verpflegung.
Als Ferramonti di Tarsia am 14. September 1943 von britischen Truppen befreit wurde und damit rund 1500 ausländische Juden gerettet waren, befanden sich die Turteltaubs aber nicht mehr dort. Sie waren am 9. Oktober 1941 in die Provinz Grossetto in Mittelitalien und dort in die Gemeinde Arcidosso zur "freien Internierung" geschickt worden. Für den Fall ihrer Bedürftigkeit, so das Innenministerium, seien sie mit 50 Lire pro Monat Unterkunftsentschädigung sowie Verpflegungskosten von täglich 8 Lire für den Familienvorstand und einem Zuschlag für Angehörige in der Höhe von 4 Lire für die Frau und 3 weiteren für jedes Kind zu unterstützen.
Gertrud Turteltaub litt an einer schweren Krankheit; ein Arzt des "Ospedale Israelitico" in Rom diagnostizierte im Oktober 1941 die Hodgkin'sche Krankheit (Lymphogranulomatose), eine Erkrankung der Lymphknoten und des lymphatischen Gewebes in anderen Organen, die ohne Behandlung sogar tödlich verläuft. Die Behandlung erforderte auch Röntgenbestrahlung. Edmund Turteltaub beantragte die Erhöhung des für Gertrud bezahlten Taggeldes von vier auf acht Lire, wie er es auch in Ferramonti erhalten hatte. Gemeinsam mit sechs weiteren in Arcidosso internierten jüdischen Frauen stellte Gertrud im November 1941 neuerlich einen Antrag auf Erhöhung des Unterhaltsbeitrages, da das Leben in Arcidosso offenbar sehr teuer war.
Im Jänner 1942 bat Edmund Turteltaub das Innenministerium um die Verlegung seines Schwagers Erich Wolken von Ferramonti nach Arcidosso; Wolken stellte von Ferramonti aus denselben Antrag. Sie waren zusammen in Ferramonti interniert und wollten nun - auch aus wirtschaftlichen Gründen, wie Edmund Turteltaub in seinem Antrag schrieb - wieder zusammenleben. Der Antrag wurde nicht befürwortet. Vermutlich war Erich Wolken unter den 1500 von britischen Truppen befreiten Juden in Ferramonti.

Nach der Besetzung Italiens durch deutsche Truppen im September 1943 begann das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) sofort, die Verhaftung und Deportation der in Italien befindlichen Juden in die Wege zu leiten. Die deutschen Behörden konnten sich dabei auf die noch unter Mussolini gesetzten Maßnahmen gegen die Juden - Internierung der ausländischen, karteimäßige Erfassung der italienischen Juden - stützen. Die wiedererrichtete Regierung Mussolini - die sogenannte "Regierung von Salò" - wollte und konnte nun nicht mehr hinter der deutschen Politik zurückstehen und erließ am 30. November 1943 die Polizeiverordnung Nr. 5: "Alle im italienischen Staatsgebiet wohnhaften Juden jedweder Nationalität, einschließlich der bevorzugt Behandelten, sind in Konzentrationslager zu bringen."

Am 12. Dezember 1943 verhafteten italienische Behörden die Familie Turteltaub in Arcidosso in der Provinz Grosseto in der Toskana und brachten sie nach Roccatederighi , eines der sogenannten "Provinzkonzentrationslager", die ab Dezember 1943 im gesamten italienischen Machtbereich eingerichtet wurden. Roccatederighi war ein früheres Priesterseminar bei der Sommerresidenz des Bischofs von Grosseto. Das mit 80 verhafteten Juden belegte Gebäude wurde mit Stacheldraht umzäunt und von mehr als zwanzig schwerbewaffneten Soldaten bewacht, um Befreiungsversuche durch Partisanen zu verhindern.
"Kurz vor dem Eintreffen der Alliierten wurde das Lager aufgelöst und die in ihm noch verbliebenen 63 Personen im April und Juni 1944 in zwei Gruppen nach Norden verlegt, die eine direkt in das zentrale Lager in Fossoli bei Carpi in der Provinz Modena und die zweite nach einem Umweg über das Lager in Scipione di Salsomaggiore ebenfalls dorthin."

Das ehemalige Kriegsgefangenenlager Fossoli bei Carpi war aufgrund seiner Größe und Lage als "nationales" Konzentrationslager und - aus der Sicht der Deutschen - als Durchgangslager für die Deportation der Juden nach Osten ausgewählt worden.
Die Familie Turteltaub war nur kurz in Fossoli interniert. Mit dem "Transport" vom 26. Juni 1944 wurde sie nach Auschwitz verschleppt. Der Zug mit rund 1000 Männern, Frauen und Kindern kam am 30. Juni dort an. Das "Kalendarium der Ereignisse im KZ Auschwitz-Birkenau" vermerkt lapidar:
"Nach der Selektion werden 180 Männer, die die Nummern A-15677 bis A-15856 erhalten, und 51 Frauen, die die Nummern A-8457 bis A-8507 erhalten, als Häftlinge ins Lager eingewiesen. Alle übrigen Menschen, unter ihnen 582 Männer, werden in den Gaskammern getötet."
Unter diesen waren die beiden Dornbirner Kinder Hans und Walter Turteltaub, 13 und 9 Jahre alt. Auch Edmund und Gertrude Turteltaub erlebten die Befreiung des KZ Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Jänner 1945 nicht mehr.